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Kidslife · das Elternmagazin

Wünsche erfüllen oder Wünsche loslassen?

Weihnachten ist das Fest der Liebe – aber auch das Fest der Wünsche und Geschenke. Man sagt ja manchmal “Vorfreude ist die schönste Freude”.  Machen also erfüllte Wünsche glücklicher, als unerfüllte? Autor und Therapeut Stefan Hammel hat sich für KidsLife Gedanken zum Thema gemacht – und mit einer Spezialistin gesprochen. Sein Gespräch mit einer Fee erschien in der allerersten Ausgabe von KidsLife und zum Jubiläum haben wir es für Euch herausgesucht.

Wünsche loslassen – Gespräch mit einer Fee

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von Stefan Hammel

Ich finde, dass jeder das Recht hat, sich so zu kleiden, wie er das möchte. Die Dame allerdings, die mir da im Zugabteil gegenüber saß, sah mit ihrem hohen, spitzen Hut und dem Schleier derart sonderbar aus, dass es mir schwer fiel, sie nicht fortwährend zu mustern.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich schließlich, als ich meine Neugierde nicht mehr zügeln konnte,

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»ich möchte nicht unhöflich sein. Aber was ist das für eine Tracht, die Sie da tragen?« Die Dame zögerte etwas, bevor sie antwortete.
»Das ist eine Feentracht.« Ich verstand nicht ganz, was sie sagen wollte.
»Oh? Sind Sie eine gute Fee? Habe ich jetzt drei Wünsche frei?« Die Dame schüttelte den Kopf.
»Ich nehme nicht mehr am aktiven Arbeitsleben teil. Ich habe letztes Jahr gekündigt. Die Tracht darf ich ehrenhalber weiter tragen.«
Ich wollte mir meine Enttäuschung nicht anmerken lassen und bemühte mich, meiner Stimme einen positiven Klang zu geben:
»Das ist aber eine interessante Tätigkeit! Ich stelle mir das sehr erfüllend vor. Was gibt es Schöneres, als einem Menschen einen Herzenswunsch zu erfüllen? Oder gleich drei? Sie reisen über Land, erscheinen plötzlich einem nichts ahnenden Menschen Ihrer Wahl und erklären ihm: ›Drei Wünsche hast du frei!‹ Ich stelle mir vor, dass es eine schönere Tätigkeit auf dieser Welt kaum geben kann. Fee sein ist doch ein absoluter Traumberuf – oder nicht?«
Wahrscheinlich war ich in meinen Ausführungen doch etwas übereifrig gewesen.
»Ehrlich gesagt – ich habe die Nase voll!«, sagte die gute Fee. Es entspann sich ein längeres Gespräch, das ich hier, so gut ich mich erinnere, wiedergeben will. Ich erfuhr, dass Mirabilia – so hieß die Dame – seit gut 80 Jahren im Feengewerbe tätig gewesen war und zuletzt als Distriktleiterin für den süddeutschen Raum gearbeitet hatte. Im vergangenen Jahr, pünktlich zu Beginn der Weihnachtssaison, hatte sie ihren Job an den Nagel gehängt.
»Sie haben doch in Ihrer aktiven Zeit als gute Fee bestimmt unzähligen Menschen die berühmten drei Wünsche erfüllt. Waren denn diese Menschen danach nicht wunschlos glücklich?«
Mirabilia wiegte den Kopf.
»Wunschlos glücklich ist, wer Wünsche loslässt, nicht wer sie erfüllt bekommt.«
»Sie meinen, die Menschen wurden nach ihrer Wunscherfüllung gar nicht glücklicher?«
»Viele Wünsche sind ja unerfüllt, weil sie gar nicht zu dem Menschen, seinen Fähigkeiten und seiner Umgebung passen.«
»Zum Beispiel?« Die Fee seufzte.
»Ich sollte hungernde Bettler mit Fürstentöchtern zusammenführen, schwärmende Teenager mit Rockidolen, einsame alte Damen mit jungen Heimatliedsängern … Manchen Menschen möchte man sagen: Ein Grund, warum der andere nicht in dich verliebt sein könnte, ist, weil er gar nicht zu dir passt! In den Tagen, als ich jung war, gab es dafür das Wort Fügung. Das heißt: Wenn sich die Dinge ineinander fügen wie Puzzlestücke oder wie Steine in einem Mosaik, wenn zwischen ihnen nur noch Platz bleibt für die Fuge, dann geschehen sie von selbst. Und die Menschen, die sich in ihre Fügung fügten, waren zufriedene Menschen.  Es ist nicht die einzige Art, die Welt zu sehen, aber es ist eine Sicht, die Glück ermöglicht.«
»Aber«, so wandte ich ein, »die Menschen wünschen sich doch auch manche Dinge, die gut zu ihnen passen, zum Beispiel Gesundheit?«
»Natürlich«, sagte die Fee. »Nur, dass die Gesunden zufriedener gewesen wären als die Kranken, könnte ich nicht sagen. Es gibt eine Menge zufriedene Kranke. Daneben gibt es kerngesunde, die sich beklagen, wie ungesund die heutige Lebensweise sei. Zufriedenheit ist etwas ganz anderes als Gesundheit – und erst recht als Reichtum. Den Menschen in Afrika brauchen wir gar nicht so viele Wünsche zu erfüllen wie den Leuten hier. ›Was brauch’ ich denn?‹, sagte dort ein Mann zu mir. ›Ich bin zufrieden‹.«

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Ich mochte mich mit Mirabilias Auskünften nicht so recht zufrieden geben. Da trifft man einmal eine richtig echte Fee, und anstatt einem drei Wünsche zu erfüllen, gibt sie depressive Kommentare von sich und macht einem ihr Gewerbe madig.
Ich wollte das nicht so auf sich beruhen lassen und fragte weiter: »Aber Kinder können doch noch richtig unverdorben wünschen, finden Sie nicht?«
»Na ja«, sagte Mirabilia, »ein Zweijähriger wünschte sich sein Elternhaus ganz aus Lebkuchen. Ein Vierjähriger wünschte seiner großen Schwester eine Glatze; sie hatte ihn nämlich nicht hereingelassen, als sie mit ihrem neuen Freund alleine sein wollte. Ein Sechsjähriger wünschte sich eine Weltreise auf Peter Pans Schiff; den Eltern hat das sehr missfallen. Ein Achtjähriger wollte einmal einen richtigen Krieg erleben. Ein Zehnjähriger wollte für den Rest seines Lebens nur noch Nintendo spielen.«
»Aber darf ich denn fragen«, beharrte ich, »wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie selbst sich denn wünschen?« Mirabilia schaute ein bisschen freundlicher drein.
»Zunächst einmal, dass die Menschen das Gute am scheinbar Schlechten sehen, und die Stärke, die hinter einer Schwäche verborgen ist. Belastende Dinge haben immer wieder einen Sinn, auch wenn wir ihn nicht erkennen. Ich traf zum Beispiel zwei junge Leute. Der eine wollte keine Angst mehr haben, der andere keine Schmerzen. Sie bestanden darauf, das sei ihr Wunsch. Bald darauf hatte der Angst einen Verkehrsunfall und der Schmerzfreie einen Blinddarmdurchbruch. Angst und Schmerzen sind grundsätzlich sinnvolle Dinge. Was wir als Krankheit empfinden, ist oft ein zweites Programm der Gesundheit, und auch Trauer oder Liebeskummer haben einen Sinn. Dazu müsste umgekehrt gehören, dass die Menschen das Schlechte am scheinbar Guten sehen – nämlich, dass jeder erfüllte Wunsch einen Preis kostet, der zu zahlen ist. Wer im Lotto gewinnt und plötzlich in einem Schloss wohnt, wird bald auch andere Freunde haben – oder gar keine Freunde.
Mein zweiter Wunsch wäre, dass die Menschen ihr Glück in der Zufriedenheit suchen, anstatt in der Erfüllung von Wünschen, die weitere Wünsche nach sich ziehen.
Als Drittes würde ich mir wünschen, dass die Menschen noch mehr ihr Glück darin finden, sich gegenseitig Wünsche zu erfüllen, anstatt darin, sich gegenseitig Neid und neue Wünsche zu erzeugen. Oder aber, dass die Menschen einander viel häufiger ihre Wünsche sagen, anstatt nur still zu wünschen und dem anderen damit die Chance zu nehmen, ihren Wunsch zu erfüllen …«2

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»Nicht einmal seinem ärgsten Feind wünscht man,  dass alle seine Wünsche in Erfüllung gehen«, sagte einmal eine Kollegin zu mir. Was würde passieren, wenn alle unsere Wünsche in Erfüllung gingen?
Manche unserer Wünsche würden gar nicht zueinander passen. Sie würden auch nicht zu den Wünschen der Menschen passen, die uns umgeben und mit denen wir gerne in Frieden und gemeinsam erfahrenem Glück leben möchten.

Außerdem würden wir uns an viele der erfüllten Wünsche schnell gewöhnen und genauso unzufrieden sein wie zuvor.  Vielleicht wären wir sogar unzufriedener als zuvor, weil unsere Erwartungen an das Leben sich mit der Zahl der erfüllten Wünsche steigern würde und unsere Fähigkeit, mit dem, was vorhanden ist, zufrieden zu sein, abnähme.
Womöglich würden wir lernen, Glück dort zu suchen, wo wir vermuten, dass unsere jeweils noch zu erfüllenden Wünsche  auf uns warten. So würden wir das Glück immerzu in einer Welt suchen, die noch nicht ist.
So könnte es gut tun, all die Wünsche loszulassen, deren Verwirklichung nicht in unserer Macht liegt. Das gilt besonders dort, wo die stete Ausrichtung auf noch unerfüllte Wünsche uns unbeabsichtigt unzufrieden macht.
Ein erster Schritt könnte es sein, solche Wünsche zwar als Wünsche gelten zu lassen, aber liebevoll-ironisch mit der Idee umzugehen, dass deren Erfüllung uns der Zufriedenheit mit unserem Leben etwas näher brächte. Zufriedenheit kommt nicht aus der Erfüllung von Wünschen, sondern eher aus ihrem Anschauen, Zulassen und Loslassen.

 

Layout 1

Geschenktipp:

Die Geschichte erschien auch in dem neuen Buch von Stefan Hammel:

Loslassen und Leben”,
Kidslife Medienverlag GmbH & Co. KG,
ISBN 3-9818052-1-­­­­­­­­­­5

 

  • Posted by kidslife on 1. November 2016

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