Dakotatinte
Es war gegen sieben Uhr am Abend, die Kinder saßen in der Wanne, das treue Weib war im Wohnzimmer am Telefon zu hören und ich steuerte meinen Lesesessel an, eine Flasche Spätburgunder und meine Abendlektüre unter dem Arm. Ich ließ mich in den Sessel gleiten, stellte die Flasche ab und schloss für einen Moment die Augen. Feierabend, Wein und eine spannende Lektüre. Wunderbarer Moment des Friedens, des Nichtgefordertseins. Ausschließlich mit freudiger Erwartung erfüllt, baumelte meine Seele und gab auch dem Körper das Signal zur Entspannung.
„Schahatz!?“ Ich erschrak. Ein Frage- und ein Ausrufezeichen hingen über dieser Ansprache durch meine Anvermählte und versetzten mich in höchste Alarmbereitschaft. Wie der Regenwurm auf das Geräusch des näherkommenden Spatens wartete ich auf die Wiederholung des Befehlsrufs. Vielleicht bliebe sie ja aus. Nichtwahrhabenwollen, Totstellen, Fliehen – in Sekundenbruchteilen ordnete ich meine Möglichkeiten.
„Schahatz!?!?“, die Hebung der zweiten Silbe war nun um eine ungeduldige Note angereichert. Mit brüchiger Stimme, die darauf hinweisen sollte, dass ich zu keinen Höchstleistungen mehr fähig wäre, schickte ich ein „Ja??“ in die Richtung der Attacke. „Schatz, bringst du heute mal die Kinder ins Bett, ich muss noch mit Anja die Vorbereitungen für die Feier durchsprechen. Sei so gut, ja!“
Es hätte schlimmer kommen können, gewiss. Trotzdem verließen mich spontan Mut und Kraft. Ist der Mensch denn unfrei geboren und dazu verdammt, sein Leben unter der Knute zu fristen? Wie kann ein angeblich gütiger Gott so etwas zulassen? Unter dem Gewicht dieser existentiellen Fragen kalkulierte ich mein Elend: Grob geschätzt, würde ich in fünfzehn Minuten wieder an meinem selbstgewählten Platz sitzen, das Erzählen der Gute-Nacht-Geschichte eingeschlossen. Eien überschaubare Zumutung. Na wartet ihr Monster! Euer Abgang wird herzlich aber schnell sein.
Als ich die Badezimmertür öffnete, traf mich ein Schwall Badewasser, es war nicht mehr viel davon in der Wanne. Der Große sah mich erschrocken an. Der Kleine gluckste und sagte: „Timo war´s.“ Ich watete auf Zehenspitzen durch schaumige Pfützen, schnappte mir ein Handtuch und den Täter. „Seinen Vater nass zu spritzen, ohne das dieser darum gebeten hat, ist ein Verbrechen und der Schuldige muß als erster aus der Wanne.“ Timo akzeptierte die Strafe und ließ sich klaglos von mir abrubbeln. Die tägliche Streiterei um die Reihenfolge beim Abtrocknen wäre damit schon mal vermieden, mindestens fünf Minuten eher als sonst würde ich bei meinem Rotwein sitzen. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her…
Ich hatte das Bad gewischt, die Kinderklamotten auf zwei Stühle verteilt und betrat nun mit ernster Mine das Kinderzimmer. Timo und Jan verhandelten, auf dem Bett sitzend, die Raumaufteilung. „Du sitzt auf meiner Seite, hau ab!“ „Von wegen, du sitzt auf meiner!“ Gegenseitiges Schieben und Knuffen. „Hau jetzt ab, du Idiot!“ „Hau du doch ab, Arschloch!“ Ich ließ mich zwischen den beiden auf dem Bett nieder und drohte mit dem Finger abwechselnd nach rechts und links: „Du nennst deinen Bruder nicht Idiot, du Arschloch. Und du nennst das Arschloch da nicht Idiot, äh Quatsch, ich meine, Ihr sollt nicht solche grässlichen Wörter gebrauchen, jedenfalls nicht in der Familie! Klar?“ Die zwei kuschelten sich rechts und links an meine Seiten und zogen sich die Bettdecke unters Kinn. Der Kleine streckte dem Großen die Zunge raus. „Du weißt, was du bist!“ zischte der. „Was denn?“ kam es scheinheilig zurück. „Sag ich dir nachher.“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Trotz alledem wartete mein Sessel. „Also los jetzt, was lest ihr gerade?“
Die beiden waren sechs und neun Jahre alt und hörten von uns als Gute-Nacht-Geschichten oft ganze Romane, manchmal auf viele Abende verteilt. „Wir lesen gerade „Lederstrumpf“, also Band eins und wir sind auf Seite 142.“ Der Kleinere war ein ehrgeiziger Klugscheißer und brachte so seinen lässig faulen Bruder regelmässig auf die Palme. Der war aber auch nicht ohne: „Ich will heute nichts vorgelesen haben, erzähl uns eine von deinen Geschichten, Papa.“ Jan protestierte: „Seite 142, mach schon, fang an zu lesen!“ „Dann halte ich mir solange die Ohren zu. Und du kannst dich auf morgen freuen.“ Diese subtile Drohung richtete Timo an seinen Bruder, nicht an mich.
Ich sah heimlich auf die Wanduhr und beschloss zu vermitteln: „Ich könnte ja mal erzählen, wie die Dakota mich zum Häuptling gewählt haben, weil sie dachten ich hätte einen Grizzly niedergerungen, was aber gar nicht stimmte. Ich war nur zufällig in den Rocky Mountains, weil doch mein kleines Propellerflugzeug abgestürzt war. Oh man, da war die Hölle los! Aber das interessiert euch sicher nicht, wir lesen lieber „Lederstrumpf“. Welche Seite nochmal? 172?“
„142“ kam es von rechts,
„Du warst nie bei den Dakota“ von links.
„Höhö, das erzähl mal den Dakota, die feiern heute noch jedes Jahr den Tag meiner Häuptlingsweihe!“
„Die feiern den Tag, an dem du wieder abgehauen bist!“ vermutete der Kleinere und Timo stellte klar:
„Du kannst nicht reiten und nicht Bogenschießen und wenn du einen Speer wirfst, geht besser alles hinter dir in Deckung!“ Jetzt freuten sich beide wie kleine Diebe.
„ Dann eben nicht…“ ich tat so, als wollte ich aufstehen.
„Fang schon an!“ lenkte der erste ein.
„Na gut, aber wehe du lügst!“ kam es von der anderen Seite.
„Es ist schon sehr lange her, ihr wart noch gar nicht auf der Welt und ich wollte gerade einen Roman schreiben, als mir die Tinte ausging. So ein Ärger! Schnell schmierte ich mir ein paar Brote und bestieg mein Propellerflugzeug um nach Nordamerika zu fliegen, denn dort gab es damals die beste Tinte. Schon über dem Atlantik stotterte der Motor und dicke Qualmwolken kamen aus dem Auspuff. Ein paar Eskimos sahen mich und winkten mir zu, aber durch den Qualm fingen sie an zu husten und rannten in ihre Iglus. Als ich endlich über New York flog, konnte ich den Tintenladen nicht sehen vor lauter Qualm und flog deshalb aus Versehen bis in die Rocky Mountains. Dort machte ich eine Bruchlandung mitten im Indianergebiet und aß erst mal meine Brote.
Ich hatte noch nicht aufgegessen, als plötzlich ein riesiger Grizzlybär auf mich zugerannt kam. Schnell holte ich ein Klappfahrrad und meine lederne Dompteurspeitsche mit dem geflochtenen Griff aus dem Flugzeug. Mir blieb nicht viel Zeit, den Bären zu dressieren, aber es gelang mir gerade noch rechtzeitig. Ich ließ ihn mit dem Fahrrad immer um das Flugzeug herum fahren, bis er schließlich erschöpft zu Boden sank. In dem Moment kamen zwei Dakotaspäher um die Ecke, äh, also aus dem Wald und sahen mich mit dem reglosen Bären zu meinen Füssen. Die Indianer wußten nun, daß ich unglaublich stark bin. Sie luden mich in ihr Dorf ein und wir saßen ums Feuer. Sie tanzten für mich den Bärentanz und ich sang ihnen „Oh Tannenbaum“ vor und zeigte ihnen, wie man mit Messer und Gabel isst. Dann fragten sie mich, ob ich ihr Häuptling sein wolle und ich sagte, sehr gerne aber ich müsse gleich wieder heim. „Dann wirst du unser Ehrenhäuptling und wir feiern jedes Jahr den Tag, an dem du uns besucht hast.“ Also rauchten wir gemeinsam die Friedenspfeife und sie schenkten mir ein Fässchen Tinte. Danach reparierte ich schnell mein Flugzeug und flog wieder heim, um weiter zu an meinem Roman zu schreiben. So, das war´s, gute Nacht!“
Der Kleine schlief schon fast und murmelte nur noch etwas wie „morgen wieder „Lederstrumpf““ oder so und Timo saß da und überlegte. „Die war nicht schlecht, aber zu kurz.“ „Du kannst sie ja mal länger erzählen“, schlug ich ihm vor „und dabei schreibst du sie auf.“ Ich brachte ihn in sein Bett und löschte das Licht.
Endlich! Ich schenkte mir ein Gläschen ein, schwenkte es vor meiner Nase und überlegte: Woher, beim Manitou, haben Indianer ein Fass Tinte?