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Kidslife · das Elternmagazin

Albert Leonardo

Zunächst möchte ich klarstellen, daß ich nicht gewollt Vater geworden bin. Ich wurde von Umständen überrumpelt. Das Ziel meiner in die Vaterschaft führenden Unternehmungen war Spaß, kein Kind! Mit dem Fakt der erfolgreichen Befruchtung konfrontiert, entwickelte ich gleich im Anschluß an eine depressive Phase mit viel Alkohol eine Akzeptanzstrategie, die ungefähr so aussah: Das ist keine zerbrochene Fensterscheibe, das ist ein echtes Kind. Es reicht nicht, zu sagen, es tut mir leid, kommt bestimmt nicht wieder vor. Hier ist echtes Bekennen gefordert. Entweder: „Wow, ein Kind, das gibt unserer Beziehung Tiefe und Sinn. Ich freu´ mich wie verrückt!“ Oder: „Spinnst du? Ich stehe kurz vorm Examen! Ich bin kein Vater! Ich weiß nicht mal, was ich selbst will, verschone mich mit der Pflicht der Sinngebung für ein neues Leben!!“

Ich entschied mich für die erste Variante. Die Mutter in Erwartung war das, was man eine hübsche Frau nennen würde, die Aussicht auf erneute Balz und Kennenlernen einer anderen Frau, die am Ende auch nur wieder Mutter werden wollte, eher öde. Und überhaupt: Ändere kein System, das funktioniert. Meine Freude kannte also keine Grenzen.

Albert leonardo
Zeichnung: Stephan Rürup

Selbstverständlich ging ich mit der werdenden Mutter zu Geburtsvorbereitungs-Seminaren und ich kann sagen, ich hechelte besser als sie. Je näher der Termin der unausweichlichen Konfrontation mit der Frucht unserer Begierden kam, umso fortgeschrittener war ich in der Entwicklung von vorauseilendem Gehorsam. Ich richtete mein Leben auf die Bedürfnisse des Neuzugebärenden und seine Mutter aus.

Liebe ist Beobachtung, stellt Peter Handke fest. Das Kind kam putzmunter auf diese Welt und ich liebender Vater beobachtete es vom ersten Tage an. Seinen ersten bewußten Blickkontakt nahm ich als das Erwachen Großes versprechender Intelligenz wahr. Im ersten Griff nach meinen Fingern zeigten sich feinmotorische Begabungen der besonderen Art und schon aus dem ersten gelallten Laut war es mir vergönnt, das Sprachtalent herauszuhören. Das Kind war gerade vier Monate alt und seine Hochbegabung unübersehbar. Ich war nachträglich froh, auf dem Namen Albert Leonardo bestanden zu haben.

Albert Leonardo wuchs heran und ich hatte sicher nicht meinen Karriereknick in Kauf genommen, um mein außergewöhnliches Kind einer ordinären Kinderaufbewahrungs-Stätte zu überlassen. Nachdem ich die Alternativen zur geistig uninspirierten Standardbetreuung eingehend studiert und meine Entscheidung gefällt hatte, entfernte ich den Fernseher und alles Plastikspielzeug aus dem Umkreis meines Stammhalters und meldete ihn in einem Waldorfkindergarten an.

Das Kind handhabte souverän Stockmar-Stifte und Filz. Auf dem ersten Elternabend erfuhr ich viel über seine Aura. Mein kleiner Elfenkönig fühlte sich recht wohl, aber mir fehlte etwas. Ich selbst bin von religiösen Gefühlen nicht heimgesucht, dennoch erkannte ich bald in der freireligiösen Geisteshaltung der Anthroposophen einen Dimensionsverzicht, der für mein hochbegabtes Kind nur durch die katholisch fundamentierte Pädagogik der Maria Montessori ausgeglichen werden konnte.

Die Anmeldung in einer Montessori-Grundschule ein Jahr später verlief unproblematisch. Da das Schulgebäude nur 300 Meter von unserem Heim entfernt lag, konnten wir oft mit dem offenen Geländewagen zur Schule fahren und hatten viel Spaß dabei. Aber mein Kind zeigte an diesem Ort angeblich nur durchschnittliche Befähigungen, wenn man den Einschätzungen der Lehrer Glauben schenken durfte. Das machte mich mißtrauisch. Wer von einem so ungewöhnlichen Kind nicht berührt wird, der kann nur ein sehr gewöhnlicher Lehrer sein, sagte ich mir.

Ich suchte und fand ein Privatgymnasium, dessen Direktor mir versichern konnte, daß ein Talent wie Albert Leonardo an seiner Schule die Förderung erfahren würde, die die Träume seines Vaters wahr werden lassen. Die Höhe der monatlich fälligen Gebühren empfand ich als dem Bildungsvorsprung, den Albert Leonardo erhalten würde, angemessen.  Leider erwies sich mein Vertrauen in die Wirksamkeit marktwirtschaftlicher Grundsätze als zu euphorisch. Nach zwei in Blindheit gegenüber den Talenten meines Nachfahren vergeudeten Jahren, empfahl das Kollegium Leonardo an eine Realschule. Seine mangelhaften Leistungen in allen Fächern außer Sport interpretierten die Herrschaften nicht etwa als Beleg ihres eigenen Versagens, sondern als Lernschwäche meines Sohnes!

Ich handelte besonnen. Anstatt die Schule zu verklagen, nahm ich die Ablehnung zum Anlass, über die tatsächliche Bestimmung meines Sohnes neu nachzudenken. Mit Freude erinnerte ich mich an die Musikalität Leonardos. Mein Sohn war natürlich ein Musiker! Mit zwei Jahren hatte er zu Sigur Ros den richtigen Takt getrommelt. Als er unvorbereitet mit der Geräuschaktivität der irischen Kapelle U2 konfrontiert wurde, fing er an zu schreien. Welches Konservatorium würde sich solcher Sensibilität verschließen wollen?

Ich will es kurz machen: Jedes. Wir scheiterten an Ignoranz, gepaart mit musikalischer Dumpfheit. Ich stellte Überlegungen an, das Land zu verlassen. Das deutsche Bildungssystem erzeugt offensichtlich mit Vorliebe mittelmäßige Systemerhalter. Ich selbst sehe mich als Opfer dieses Systems, das durch seinen Sohn gerächt werden wird – und sei es im Ausland.

Da die deutschsprachige Schweiz und Österreich die einzigen Länder gewesen wären, in denen Albert Leonardo sich eventuell hätte verständlich machen können, entschied ich mich dann doch für die Hauptschule in unserem Wohnort. Sollte er seine Führungskompetenz dadurch verstärken, alle sozialen Schichten kennengelernt zu haben.  Diese Rechnung ging endlich auf. Sein mittelmäßiger Schulabschluss nach ein paar Jahren war kein Hinderungsgrund für seine Aufnahme als Metzgerlehrling in einem Familienbetrieb mit Tradition.

Leider erhielt er auch hier durch die Besonderheiten seiner Begabung keine echte Anerkennung. Der  Metzger bestand mit geradezu militärischer Penetranz auf Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Einsatzbereitschaft, mit denen man ja bekanntlich auch ein Konzentrationslager leiten kann. Aufgrund der eigenen Beschränktheit blieb ihm das Potenzial, das ihm ein verschwenderisch gütiges Schicksal in Gestalt von Albert Leonardo unverdienter Weise zugeführt hatte, verborgen. Aber ich gab nicht auf!

Nachdem ich nun einsehen mußte, daß meinem Sohn alle Wege gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit und Anerkennung begabungsbedingt verschlossen bleiben würden, gab ich ihn schweren Herzens in eine Banklehre. Obwohl ich diesen Schritt vor der Verwandtschaft und unseren Freunden zu verheimlichen versuchte, wurde es irgendwie offenbar und unsere Familie vereinsamte recht schnell. Neid und Missgunst machten es den meisten unmöglich, den Sieg der außergewöhnlichen Fähigkeiten unseres Sohnes in einer begabungsresistenten, Mittelmaß fördernden Umgebung, mit uns zu feiern.

Leonardo aber blühte auf und unterhielt uns fortan an so manchem Abend mit Anekdoten aus dem Bankleben. Wenn er wortgewaltig und facettenreich von seiner Verwechslung eines Zwanzigers mit einem Fünfziger berichtete, uns privilegierte Eltern dabei an der Innenwelt einer Bank teilhaben lassend, lachten wir aus vollem Herzen mit ihm. Ich fühlte ich mich bestätigt und belohnt.

Nun, ich hätte sicherlich auch einen  großen Politiker aus ihm machen können, aber was soll die Eile? Er hat ja nun alle Voraussetzungen, z. B. Bundespräsident zu werden. Warten Sie´s ab – Menschen wie wir setzen sich am Ende immer durch.

Albert Leonardo
Zeichnung: Stephan Rürup

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