Verdacht auf schwerwiegende Nebenwirkungen
Die „Frontal 21“-Dokumentation „Das Pharmakartell“, die das ZDF am Dienstagabend vom 09. Dezember 2008 ausstrahlte, belegt die lange Liste der Nebenwirkungen von Strattera. Das zeigen interne Unterlagen des Bundesinstituts für Arzneimittel, die dem ZDF vorliegen. Danach gab es 234 Verdachtsfälle von zum Teil gefährlichen Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Strattera seit der Einführung des Medikaments im Jahr 2005 – darunter Herzschwächen, Hörstürze und Suizidgedanken, allesamt bei Kindern und Jugendlichen. Laut der Behörden-Liste starben vier Kinder. Die Todesursachen: Suizid, Herzinfarkt, Gehirnschlag. Das jüngste Kind war drei Jahre alt.
Medikament soll vom Markt
Der Patientenbeauftragte im Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, Jörg Schaaber, fordert jetzt, dass das Medikament vom Markt genommen wird. Schaaber gegenüber dem ZDF: „Strattera wird eingesetzt im Prinzip bei gesunden Kindern. Die sind nur zappelig, unruhig, können sich schlecht konzentrieren. Das hat aber oft keinen Krankheitswert, ist nur nervig für die Umwelt. Es ist sehr fragwürdig, Kinder mit solch stark wirksamen Medikamenten und solch schwerwiegenden Nebenwirkungen zu behandeln. Das steht in keinem Verhältnis zum äußerst zweifelhaften Nutzen dieses Medikaments.“
Wirkt wie Speed
Auch Professor Peter Schönhöfer vom „arznei-telegramm“ erhebt schwere Vorwürfe: „Diese Substanzen wirken, wie wir früher sagten, wie Amphetamine oder, nach neuerem Sprachgebrauch, wie Speed. Das sind Substanzen, die gefährlich sind, weil sie einen übererregten Zustand auslösen – und dazu gehört auch die Selbstaggression, also der Suizid“, so Schönhöfer gegenüber dem ZDF.
„Es wurde immer schlimmer“
„Frontal 21“ berichtet vom heute 17-jährigen Tom , der ein guter Schüler war und sich in der fünften Klasse plötzlich verändert, unruhig wird, sich ablenken lässt. Auf Anraten der Lehrerin gehen die Eltern mit Tom zum Arzt, der ADHS diagnostiziert und dem Jungen anfangs Ritalin verschreibt. Später bekommt er dann das Medikament Strattera. Tom erinnert sich: „Dann kamen wir halt zu den Tabletten, ohne uns darüber informiert zu haben, was sie wirklich für Wirkungen haben.“
Tom zog sich immer mehr zurück
In Frontal 21 wird berichtet, dass die Eltern Tom jahrelang Strattera geben. Zwar konnte ihr Sohn sich wieder besser in der Schule konzentrieren, doch der Junge zog sich immer mehr in sich zurück. Heute sagt Tom, dass ihn das Medikament runter gezogen habe. „Am Anfang war’s noch okay, aber im Endeffekt wurde es dann immer schlimmer.“
Tom hatte Selbstmordgedanken
Durch die Einnahme von Strattera habe er Gefühle wie Freude, Trauer oder Schmerz gar nicht mehr empfunden, seine Persönlichkeit habe sich verändert. „Man geht innerlich zu Grunde“, so Tom in der ZDF-Dokumentation. Er haben auch über Selbstmord nachgedacht. „Zum Schluss habe ich mich gefühlt, wie wenn man an der Klippe steht und nur noch überlegt: springen oder nicht? Viel hat da nicht mehr gefehlt.“
Stellungnahme des Herstellers
Inzwischen hat auch der Hersteller Eli Lilly Stellung zur Pressemitteilung von „Frontal 21“ genommen: In Wahrheit sei kein Todesfall eines Kindes in Deutschland bekannt, der in ursächlichem Zusammenhang mit Strattera stehe. Falsch sei außerdem laut der Firma, dass Strattera ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis habe. Die Aussagen von Schaaber seien grob unwissenschaftlich, da der Patientenbeauftragte seine Bewertung lediglich aus Fall-Listen ableitete ohne tatsächliche Kenntnis von Einzelfällen. Ebenso sei es nicht richtig, dass Strattera „im Prinzip bei gesunden Kindern“ eingesetzt wird, denn die Diagnose ADHS müsse von einem Arzt mit entsprechendem Fachwissen nach international anerkannten Kriterien erfolgen. Laut Lilly Deutschland bleibe die Nutzen-Risiko-Bewertung von Strattera unverändert positiv. Die Einstellung teilten die Zulassungsbehörden in weltweit 83 Ländern.
Zulassungsbehörde bestätigt Todesfälle nicht
Die deutsche Zulassungsbehörde kann die Berichte über vier Todesfälle im Zusammenhang mit dem Mittel nicht bestätigen. Woher das ZDF-Magazin „Frontal 21“ die Zahl vier habe, sei nicht klar, sagte ein Sprecher des Bonner Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) am Dienstag auf Anfrage. In Deutschland habe es einen Selbstmord eines 16-Jährigen gegeben, bei dem ein Zusammenhang mit dem Mittel nicht ausgeschlossen werden könne. Eine ursächliche Verbindung sei allerdings nicht belegt. Das Mittel trägt einen Warnhinweis auf mögliche Selbstmordgedanken. Die „Frontal 21“- Redaktion hielt auf Nachfrage an ihrer Darstellung fest.
Laut Hersteller keine Hinweise auf Todesfälle
Die Zahl von 234 Verdachtsfällen teils gefährlicher Nebenwirkungen treffe zu, sagte der BfArM-Sprecher. Bis auf den einen Selbstmordfall gebe es in Deutschland aber keine Hinweise auf Todesfälle. Aus den USA gebe es Berichte über den Tod eines dreijährigen Kindes. Der Fall sei aber schlecht dokumentiert. Der in der Sendung erwähnte Fall eines Fünfjährigen, der im Zusammenhang mit dem Mittel einen Herzinfarkt erlitten habe, habe in der Datenbank nicht ermittelt werden können. Über den erwähnten Gehirnschlag eines Zwölfjährigen lägen aus dem Ausland Informationen vor. Der Hirnschlag sei nicht tödlich verlaufen.
Warnhinweis: Selbstmordgedanken
Strattera (Wirkstoff Atomoxetin) war vor vier Jahren zur Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität zugelassen worden. Knapp ein Jahr später musste das Mittel mit einem Warnhinweis vor Selbstmordgedanken versehen werden. Kinder, die mit dem Medikament behandelt werden, müssen demnach sorgfältig auf Verhaltensänderungen beobachtet werden. Laut Lilly Deutschland ist das Medikament für Kinder aber 6 Jahren und Jugendliche zugelassen.
KidsLife Heft 01/2009
Rubrik: „Das besondere Kind“, Titel: „Lebhafter Tausendsassa“